«Wir wollen herausfinden, wie Versuche in der Tierforschung ethisch bewertet werden»
Das Projekt «THINK-3R» ist Teil des NFP 79 und erforscht die ethischen Standpunkte der Akteure in der Tierforschung. Mit simulierten Entscheidungsszenarien wird versucht, wissenschaftlichen Nutzen und Tierschutz in Einklang zu bringen.
David Azilagbetor ist Mitglied des Projekts «THINK-3R», das von Prof. Jens Gaab und Prof. Bernice Elger an der Universität Basel geleitet wird. Das Projekt mit dem vollständigen Titel «3R-sTrategies and Harm-benefIt analysis: uNderstanding decision-maKing and improving consistency and accountability in animal experiment evaluations in Switzerland [THINK-3R]» hat zum Ziel, die Konsistenz der ethischen Entscheide über geplante Tierversuche in der Schweiz zu untersuchen und zu stärken. David Azilagbetor gibt Einblicke in die Ziele und Methoden des Projekts.
David, was sind die Kernthemen des Projekts?
Wir wollen in Erfahrung bringen, wie Tierforschung nach Ansicht der verschiedenen Akteure in der Schweiz bewertet werden soll. Denn alle geplanten Tierversuche müssen in der Schweiz ethisch geprüft und bewilligt werden, bevor ein Forschungsprojekt startet.
Unser Fokus liegt auf der Frage, wie die verschiedenen Akteure – Wissenschaft, Patienten, Ethikkommissionen und die Schweizer Gesellschaft allgemein – solche Versuche ethisch bewerten würden.
Wie messen Sie die ethischen Bewertungen der Akteure?
Wir versetzen diese Akteure in hypothetische Entscheidungssituationen und bitten sie um eine ethische Bewertung von realen Tierversuchen in der Schweiz. Wir möchten vor allem herausfinden, was diesen Akteuren am wichtigsten ist, insbesondere beim Gleichgewicht zwischen dem potenziellen Nutzen dieser Versuche und dem Schaden, der den Tieren zugefügt wird. Wir werden die ethischen Ansichten und Erwartungen erfassen und wollen damit den kantonalen Ethikkommissionen unterstützende Informationen für ihre Entscheidungsprozesse bereitstellen.
Ein zentraler Aspekt dieser Forschung ist die Anerkennung der vielfältigen Akteure, die in der Schweiz in die Tierforschung involviert sind, und die Einsicht, dass es wichtig ist, ihre ethischen Standpunkte bei der Bewilligung von Tierversuchen zu berücksichtigen.
Können Sie uns mehr über diese Akteure erzählen?
Ein Hauptakteur ist die Wissenschaft, da die Forschenden diese Versuche durchführen und eine zentrale Rolle bei der Einhaltung der ethischen Standards in der Tierforschung spielen. Daher ist es wichtig, ihre Haltung zu ethischen Aspekten der Tierforschung zu verstehen. Auch die Schweizer Öffentlichkeit ist ein wesentlicher Akteur, denn sie hat ein Mitspracherecht und kann mit vielfältigen Mitteln Einfluss auf die Tierforschungspolitik nehmen, zum Beispiel bei Abstimmungen über Volksinitiativen. Ebenso die Patienten, die in der Regel von den Erkenntnissen aus Tierversuchen profitieren, weshalb ihre ethischen Perspektiven ebenfalls in die Entscheidungsfindung einfliessen sollten.
Ein weiterer Kernaspekt unseres Projekts besteht darin, die Wirkung von Ethikunterricht zu untersuchen. In unsere Fallstudien mit den Akteuren integrieren wir kurze Unterrichtseinheiten und analysieren, ob sie einen Einfluss auf ihre ethischen Ansichten zur Tierforschung haben. Diese Interventionen sind ein zentraler Teil unseres Projekts, und wir beziehen auch Studierende ein, die an Schweizer Hochschulen Ethikkurse besuchen. Konkret untersuchen wir die Auswirkungen des Ethikunterrichts auf die Fähigkeit der Studierenden, Tierversuche zu beurteilen. Wenn wir verstehen, wie der Ethikunterricht ihre Entscheidungen beeinflusst, können wir bessere Unterrichtsmodule entwickeln.
Insgesamt geht es in unserem Projekt darum, die Entscheidungsfindung aus der Perspektive der verschiedenen Akteure zu beleuchten und alle Beteiligten in die Diskussion um die Tierforschung in der Schweiz einzubeziehen. Ein besonders innovatives Element unseres Ansatzes besteht darin, diese Akteure in die Lage von Entscheidungsträgern zu versetzen, indem sie reale Experimente bewerten, die derzeit laufen oder bereits durchgeführt wurden.
Sie haben eine Umfrage erstellt und mit Unterstützung des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) an 1367 Studienverantwortliche verschickt. Was erhoffen Sie sich von dieser Befragung?
Wir untersuchen die ethischen Einstellungen der Akteure mittels qualitativer Umfragemethoden. In der Umfrage werden Zusammenfassungen von Tierversuchen vorgelegt. Diese erklären, welche Schäden den Tieren zugefügt werden und worin der erwartete Nutzen besteht. Die Befragten müssen angeben, ob sie diese Versuche bewilligen würden. Die Umfrage, die über das BLV an die Studienverantwortlichen verschickt wurde, richtete sich an Forschende in der Schweiz. Die Teilnehmenden füllen die ethische Bewertung der Fälle aus, sehen sich dann ein kurzes Video an und fahren mit der ethischen Bewertung fort. So können wir beurteilen, ob die bereitgestellten Informationen ihre Meinung beeinflussen. Wir erfassen auch ihre persönliche Moralphilosophie und ihre Haltung zur Tierforschung im Allgemeinen.
In Zusammenarbeit mit dem BLV und Otto Maissen haben wir die Umfrage über die Plattform Animex des Bundes an über 1'300 Studienverantwortliche verschickt. Durch diese Zusammenarbeit konnten wir sicherstellen, dass wir alle Forschenden in der Schweiz erreichen, die Tierversuche durchführen. Ohne die Unterstützung des BLV wäre es schwierig gewesen, diese grosse Zielgruppe abzudecken. Wir danken auch den Projektleitungen des NFP 79, welche die Umfrage an andere Forschende weitergegeben haben.
Was kommt als nächstes?
Derzeit befinden wir uns in der Phase der Datenerhebung und hoffen, weitere Antworten zu erhalten. Wir haben etwa ein Viertel unserer Zieldaten erreicht. Während wir weitere Daten sammeln, werden wir damit beginnen, die bereits erfassten Daten auszuwerten. Wir werden auch unsere Unterrichtsmodule mit Studierenden an Schweizer Hochschulen fortsetzen.
Zusätzlich zur Umfrage haben wir Podiumsdiskussionen mit Expertinnen und Experten für Tierforschung und Forschung allgemein organisiert, um unser Projekt zu bereichern und Bewertungskriterien für vielfältige ethische Aspekte festzulegen. Wir haben auch alle Projektleitungen des NFP 79 eingeladen, deren Unterstützung im Rahmen des Forschungsprogramms enorm wertvoll war. Wir werden die Ergebnisse dieser Diskussionen untersuchen und damit die Ziele unseres Projekts vorantreiben.
Neue Infografik mit Projektübersicht
Eine neue Infografik gibt einen Überblick über das Forschungsprogramm NFP 79: Projekte, Module und wichtigste Akteure.